Gabriele Münter Preisträgerin 2017

In einem zentralen Werkkomplex hat Beate Passow den Finger an die Wunden der Erinnerung gelegt. Damit ist nicht allein die so betitelte Arbeit, die sie mit Andreas von Weiszäcker anlässlich der 50. Wiederkehr des Tages der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur in sieben europäischen Ländern realisierte, angesprochen. über die Markierung der im Alltag immer noch gegenwärtigen buchstäblichen Verletzungen hinaus umfasst der Begriff bei Passow mehr noch die Wunden, die sich im autobiografischen Gedächtnis verborgen sind. Sich ihnen ohne Rücksicht auf die eigene Verletzbarkeit zu stellen, war ihr vorrangiges Anliegen, das sich stets in kritischer Distanz zur ideologischen Erinnerungskultur, die das bloße Andenken politisch ritualisiert, bewegte. Mit dem 1995-1998 verwirklichten Projekt Zähler/Nenner beschloss Passow ihre nicht zuletzt auch biografisch motivierte Erinnerungsarbeit. Die Fotografien der Unterarme mit den eintätowierten Nummern ehemaliger KZ-Insassen lenkte die Aufmerksamkeit weg von der kollektiven Anonymisierung des dämonisierten Gesamtkomplexes auf die individuellen Geschichten der Opfer, die der Vernichtung entkamen. Passows Bilder tun dies mit großer Sensibilität und Diskretion.

In diesem Zusammenhang erscheint es bemerkenswert, dass erst jüngst im Jahr 2011 die Beihilfe innerhalb des Gesamtkomplexes einer Vernichtungsstätte eine juristische Neubewertung erfuhr. Nur so konnten die letzten noch lebenden Helfer des Systems zur Verantwortung gezogen werden, welche jahrzehntelang von der Justiz nicht angeklagt worden waren, weil nur die unmittelbare Beteiligung an einem Tötungsdelikt verfolgt wurde.

Die Werkentwicklung von Beate Passow ist in der Rückschau einerseits durch augenfällige inhaltliche Themenverlagerungen gekennzeichnet, doch andererseits vollkommen unbeirrt geblieben. Dieser scheinbare Unstimmigkeit wurde über die Jahre hinweg durch eine Haltung überbrückt, welche die Themen, denen sie sich als Künstlerin zuwendet, mit demselben unbestechlichen Blick erforscht und veranschaulicht. Dabei geht es Passow immer um die Kritik an einer einseitigen Betrachtung von Sachverhalten, die der Betrachter meist nicht aus eigener Anschauung kennengelernt hat, sondern zu denen er lediglich durch die Information aus zweiter Hand Zugang erfährt.

Wir leben in einem Zeitalter nahezu ungehinderter Mobilität und eines zunehmend überschleunigten Datentransfers, der es ermöglicht, Ereignisse und Prozesse zeitgleich zu erleben und zu kommentieren. Moderne Informationstechnologien erlauben es, dass wir uns ein Bild von der Wirklichkeit machen. Bei den zur Verfügung gestellten schriftlichen oder verbalen Informationen ist uns noch bewusst, dass sie gefiltert sind, dennoch vergessen wir oft, wie einseitig diese diversen Filter ausgerichtet sind. Wir bilden uns eine Meinung, die häufig genug auf dem Sprichwort fußt, "wo Rauch ist, ist auch Feuer", weil wir mit subtilen Mitteln versucht werden, meinungsbildende Erklärungen der Realität, mit der Realität gleichzusetzen. Obwohl Informationen, die ein Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten durchaus greifbar sind, machen wir uns kaum die Mühe, anderslautende Darstellungen einzuholen. Das heißt, wir besitzen in der Regel zwar nur von wenigen Dingen wirkliche Kenntnisse, doch haben zu allen möglichen Dingen eine Meinung, die mitzuteilen, wir darüber hinaus permanent animiert werden. Diesen Kreislauf von Meinungsbildung durch Meinungsmanipulation durchbricht Beate Passow mit ihrer Kunst, indem sie sich in ihren Projekten seit Mitte der 1990er Jahre auf gesellschaftshistorische Themen aus mehr oder minder fernen Kulturkreisen konzentrier. Sie wendet sich Geschichten zu, denen sie sich multiperspektivisch annähert, das heißt nicht indem sie einseitig die Perspektive der jeweiligen Betroffenen einzunehmen versucht, sondern indem sie diese mit der Außensicht des Reisenden in Beziehung setzt. Es geht ihr dabei darum, die Ferne und Nähe fremder Kulturen in der Gegenüberstellung des Unbekannten mit dem Gewohnten darzustellen.

In ihren Projekten der letzten fünfzehn Jahre wendet sich Passow historisch verankerten Gegenständen aus entfernten Kulturkreisen zu, die uns durch die globale Erweiterung unseres alltäglichen Gesichtsfeldes und eine gewachsene Mobilität, die es uns ermöglicht beinahe die gesamte Welt zu bereisen, sehr viel näher gekommen ist. Dabei hat sich das Interesse der Künstlerin auf Themen fokussiert, die sie u.a. in den Iran, nach Pakistan und China geführt hat. Bei ihren gesellschaftshistorischen Studien recherchiert sie sowohl Gegebenheiten des Alltags als auch Praktiken und Gebräuchen, die anthropologisch tief in den jeweiligen Regionen verwurzelt weiter existieren. Ihre Arbeiten spüren diesen Traditionen in der Gegenwart einer sich kontrovers entwickelnden Eine-Welt-Gesellschaft nach, deren Diversität zwar zugänglich geworden, aber unverständlich geblieben ist. Die sich daraus zwangsläufig entwickelnden Begehrlichkeiten sind allenthalben erkennbar und lösen erbitterte und Auseinandersetzungen aus, denen wir allabendlich in den Abendnachrichten ausgesetzt sind. Dieser Antagonismus wird konterkariert durch die ungebremste Mobilität, die beinahe jeden Ort dieser Welt erreichbar macht. Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass sich im eigenen Umfeld ein zunehmendes Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität des eigenen lokalen Umfeldes breit macht, in dem gleichwohl ein global gefärbtes Angebot geschätzt wird, das die Realität seiner Ursprünge ebenso konsumierbar macht.

Das Reisen, der persönlicher Kontakt ist ein integraler Bestandteil von Passows Arbeiten. Sie wendet dabei in ihren Projekten vom touristischen Blick auf die Welt ab. Die Erkundung der thematisierten Gegenstände vor Ort geht über die Dokumentation hinaus in eine Betrachtung unter künstlerischen Gesichtspunkten. Passow stellt nicht nur das eigene unmittelbare Erleben dar, vielmehr stehen die Menschen, die sie trifft, im Vordergrund ihrer Arbeit, und sie sind nicht bloß passive Teilnehmer eines unverständlichen Geschehens, sondern aktive Teilhaber an einer zeitgenössischen Gesellschaft. Als Passow 2000 die chinesische Provinz Yunnan reiste, begab sie sich auf der Suche nach der letzten Generation von Lotuslillies und ihren Schuhmachern, die das Schuhwerk für jene verstümmelten Füße herstellen. Vierzehn Paare der kunstvoll hergestellten, bestickten Schühchen musste die Braut mit in die Ehe bringen. Die durch schmerzhaftes Abbinden bereits im Kleinkindalter herbeigeführte Verkleinerung entsprach nicht nur einem tradierten Schönheitsideal, sondern sorgte gleichzeitig auch für eine häusliche Bindung. Das bereits 1911 eingeführte Verbot der Lotusfüße wurde erst mit der kommunistischen Revolution wirksam durchgesetzt, so dass die grausame Deformation mit den letzten Frauen, die sie erleiden mussten, stirbt.

Bei der Begegnung mit den Frauen, die diesem aus westlicher Sicht demütigenden Akt der Beschränkung und Unterwerfung ausgesetzt waren, traf Passow allerdings auf Frauen, die sich selbstbewusst zeigten, insofern sie zu den Ausgewählten gehören, die das Privileg genossen, von schwerer Feldarbeit befreit zu sein, und ihre besondere erotisierende Ausstrahlung bis in ihr hohes Alter durchaus genießen. Insofern bewegten sie sich auch in der völlig ungewohnten Umgebung eines westlichen Hotels mit derselben natürlichen Anmut wie in der angestammten Umgebung ihres Wohnhauses oder beim Tai-Chi.

Vergleichbar bemerkenswert fremdartige Erfahrungen kennzeichnen die Begegnungen in Pakistan 2003 mit den Chuhas am Shrine und 2004 mit den Zwergen. Dort gilt den Chuhas, die an einer durch einen Eingriff, der das Wachstum des Kopfes verhindert, ausgelöste Mikrocephalie leiden, eine ganz besondere Verehrung, weil ihnen ausgewöhnliche Kräfte zugeschrieben werden. Genauso wird kleinwüchsigen Menschen größerer Respekt entgegengebracht, was dazu führt, dass sie in bestimmten Berufen gefragt sind und demgemäß ihr Selbstbewusstsein entwickeln können.
Die unbefangene Außensicht ist für Passow das entscheidende strategische Momentum, mit dem sie sich ihren Gegenständen annähert und annimmt. Dies betrifft ihre Projekte an fremden wie an vertrauten Orten in gleicher Weise. Wenn sie aus dem fahrenden Auto Prostituierte im Lhasa in ihrer Shangri-La (2005) fotografiert und die so entstandenen Bilder mit traditionellen kunstvoll gestickten tibetischen Stoffmotiven hinterlegt, dann ruft sie die Immigration eines kulturellen Kontrasts auf, der uns in vergleichbarer Form durch die in Mode und Bewusstsein (2006) eingedrungenen farbigen Burkas im Münchener Biergarten begegnet.

In all diesen Werkreihe vermittelt Passow die überwindbarkeit von Gegensätzen und Fremdheit, die uns aus der Unkenntnis vom alltäglichen Leben in anderen Ländern und Kulturkreisen erwachsen. Wie sehr sich über alle Andersartigkeit hinaus Gemeinsamkeiten entdecken lassen, zeigt sich am banalsten und vielleicht sympathischsten in den Bildern von Picknick in Persien (2012), die davon erzählen, wie einfach das friedliche Nebeneinander sein könnte, auf einer Decke im Park oder Parkplatz bei einem Imbiss und Getränken, so wie wir es vom Baggersee oder aus dem Englischen Garten kennen. Allein die auch uns wohlbekannte gelöste Atmosphäre einer Mahlzeit im Freien kann nicht darüber hinweg täuschen, welch unterschiedlichen Bedingungen einer unfreien Gesellschaft Passows Bilder entspringen. In ihrer aktuellen Arbeit setzt sich Passow mit einem Abschnitt der jüngeren deutschen Geschichte auseinander, der Terrorismus der Roten Armee Fraktion. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorge am 2.Juni 1967 und das Attentat auf Rudi Dutschke am 11.April 1968 führten zur Radikalisierung eines Teils der bundesdeutschen Studentenbewegung, die sich seit den frühen 1960er Jahre zunehmend politisiert hatte. Auslöser und Antrieb war der Kampf gegen die restaurative Politik im Nachkriegsdeutschland und deren Weigerung, sich der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen. Der Protest richtete gegen die Tatsache, dass viele öffentliche Positionen in Politik, Wirtschaft und Justiz von ehemaligen Tätern und Mitläufern des Nazi-Regimes besetzt waren. Als Folge der Ereignisse spaltete sich Bewegung in eine Vielzahl von Gruppen, die ein unterschiedliches Verhältnis zum Einsatz von Gewalt gegen Sachwerte und Personen vertraten. Seit Beginn der 1970er Jahre agierten die Bewegung 2.Juni und die Rote Armee Fraktion aus dem Untergrund.

Beate Passow benutzt in ihrer Arbeit zwei Fahndungsplakate, die richtungsweisende Phasen der RAF-Geschichte markieren. Es handelt sich zum einen um den Fahndungsaufruf vom Mai 1970 zu Ulrike Meinhof, die als intellektuelle Instanz der Bewegung galt und an der Befreiung von Andreas Baader beteiligt, der in Frankfurt wegen seiner Beteiligung am Brandanschlag auf eine Kaufhaus einsaß. Zum anderen ist es das Plakat mit dem zur Ergreifung der 1. Generation der RAF aufgerufen wurde. Das in allen Polizeistationen der Republik und in vielen öffentlichen Gebäuden hängende Plakat wurde im Verlauf der Festsetzung der einzelnen Mitglieder zum Bildsymbol für die Taten der Gruppe, und erlangte eine historische Bekanntheit durch ein Exemplar, auf dem die Abgebildeten nach und nach ausgekreuzt waren. Passow hat beide Plakate zu einer Preziose stilisiert, indem sie sie in Seide sticken lässt. Mit dieser außergewöhnlichen Technik rückt sie ein bedrückendes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte ins Bewusstsein der öffentlichkeit zurück, das durch den allgegenwärtigen Terrorismus, der in beinahe allen Gebieten der Erde zum Alltag gehört. Vor diesem Hintergrund erscheinen die 1. Generation der RAF, die sich zum dramatischen Höhepunkt des Deutschen Herbsts selbst auslöschte, weit von unserer heutigen Lebenswirklichkeit entfernt. Und es wird dabei vergessen, welche Auswirkungen diese Ereignisse bis in unsere Gegenwart zeitigt. Passow bedeutet mit ihrem Erinnerungsaufruf wie fragil auch eine scheinbar gefestigte Demokratie immer ist und sein wird.

Ulrich Wilmes